Minnies Reise

Minnie sah von ihren Hausaufgaben auf und seufzte. Warum war alles so kompliziert? Warum musste sie immer Dinge tun, die sie nicht tun wollte? Das Leben war schwierig. Jeder wollte etwas von ihr. Für ihre Mama musste sie immer höflich sein und die richtigen Dinge zu den Leuten sagen, lächeln und nett sein – auch wenn sie keine Lust dazu hatte. Ihr Papa war ständig beschäftigt – er hatte immer nur seine Arbeit im Sinn. Wusste er überhaupt, dass sie da war? Und ihre grossen Brüder hatten nichts Besseres zu tun, als sie die ganze Zeit zu necken.

 

In der Schule war es noch schlimmer – ihre Lehrerin wollte immer, dass sie sich
k-o-n-z-e-n-t-r-i-e-r-t-e, und das bedeutete, dass sie NIEMALS - nicht einmal für eine Sekunde - an den wunderbaren Traum denken konnte, den sie in der Nacht zuvor gehabt hatte ...

 

In dem Traum war sie auf einem wunderschönen Spielplatz gewesen und hatte so viel Spass gehabt, die Regenbogenrutsche hinunterzusausen. Es war ihre Rutsche und NUR ihre BESTEN Freundinnen aus der Schule durften sie mit ihr teilen.

 

Die Schule... Was für ein Albtraum. Ja, ihre Lehrerin war wirklich nett, aber sie sagte ständig Sachen wie: „Pass auf, Minnie“, oder „Du träumst schon wieder, Minnie“, oder „Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe, Minnie?“

Und die Jungs ... furchtbar. Die Jungs waren einfach schrecklich. Sie waren frech und beschimpften sie ständig, besonders Billie, der im Unterricht hinter ihr sass. Frau Ellie hatte schon mehrmals in der Klasse darüber gesprochen und gesagt, dass sie das nicht tun sollten. Sie sollten nett sein und sich entschuldigen, wenn sie mal unfreundlich gewesen waren. Ob das jemals passieren würde?

 

Minnie fühlte sich ein wenig verloren. Die Welt um sie herum wirkte so gross – so hart – so kompliziert – und manchmal überhaupt nicht schön.

 

Wenigstens zu Hause fühlte sie sich sicher. Sie konnte sich in ihrem Zimmer verkriechen und lesen. Sie liebte es zu lesen, und ihre Lehrerin sagte, sie sei recht gut darin. Sogar die frechen Jungs hörten ihr zu, wenn sie in der Klasse etwas laut vorlesen sollte. 

 

Minnie seufzte wieder und ... „Oh, hallo", sagte sie zu dem schönen dreifarbigen Kater, der gerade ins Wohnzimmer gekommen war. „Miau", sagte der Kater – und zu ihrer TOTALEN, VÖLLIGEN Überraschung wusste Minnie genau, was dieses Miau bedeutete. Es bedeutete ‚Hallo-Minnie-wie-geht-es-dir-ich-habe-dich-gesucht'. „Du hast mich gesucht?“ fragte Minnie. „Warum?"

 

"Miau-au", antwortete der Kater. Und wieder verstand Minnie GENAU, was er sagte. "Ich wurde von diesem Typen in dem blauen Kleid mit den weissen Pünktchen geschickt", meinte er, "und, oh ja, er hat Flügel." Minnie kicherte. Sie wusste genau, wer dieser seltsame Typ mit den Flügeln war. Es war ihr Schutzengel. Und er brachte sie immer zum Lachen.

 

„Ich verstehe,“ sagte Minnie, „und was will er?“ „Er möchte, dass du alles stehen und liegen lässt und mich auf ein Abenteuer begleitest", sagte der Kater, und Minnie fragte sich, wie um alles in der Welt er mit einem einzigen ‚Miau‘ so viel sagen konnte. „Ich weiss nicht", überlegte sich Minnie. „Ich bin mir sicher, dass meine Mama nicht möchte, dass ich auf ein Abenteuer gehe. Jedenfalls nicht, bevor ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Ausserdem ist es fast Zeit für das Abendessen. Und ich will noch mein Buch zu Ende lesen."

 

"OK", sagte der Kater, sichtlich enttäuscht. „Ich werde es ihm ausrichten." Er schaute sie mit seinen grossen, runden Augen an und machte dann einen Schritt auf die Katzenklappe zu – die Minnie dort überraschenderweise noch nie zuvor gesehen hatte.

"Warte", sagte Minnie, und sie wusste selbst nicht genau, warum sie das sagte. „Was für ein Abenteuer?" Ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht des Glückskaters. „Keine Ahnung“, sagte er, „wenn ich es wüsste, wäre es ja kein Abenteuer mehr, oder? Ich weiss nur, dass ich Abenteuer LIEBE – und du auch, nur dass du gerne in Büchern darüber liest – und ich ERLEBE sie.“ Sein langer, schöner Schwanz zuckte elegant nach links und nach rechts. „Wollen wir gehen?“

 

„Na gut dann“, seufzte Minnie „solange du mich nicht beschimpfst wie die Jungs in meiner Klasse.“ „Miau“, antwortete der Kater frech, „ich werde mein Bestes geben, und ein richtiger Gentleman sein.“

 

Sie traten hinaus in den Garten durch das Tor, das Minnie seltsamerweise auch noch nie zuvor gesehen hatte, und auch der Garten war ihr irgendwie fremd.

 

„Ich glaube, ich sollte ein bisschen mehr auf meine Umgebung achten“, dachte Minnie. „Ich sehe ständig Dinge, von denen ich nicht wusste, dass sie da sind.“ „Stimmt“, sagte der Kater. „Hast du gehört, was ich gerade gedacht habe?“ fragte Minnie erstaunt. „Natürlich“, kam die Antwort, „hier, in dieser Welt, können alle hören, was andere denken, und fühlen, was andere fühlen. Das macht alles viel weniger kompliziert.“

 

„Aber was ist, wenn ich etwas wirklich Schlimmes über jemanden denke?“, sagte Minnie ein wenig verlegen.

„Ich schätze, das könnte dich in Schwierigkeiten bringen“, grinste der Kater.

„Wenn man etwas Schlimmes oder Gemeines denkt, bekommt man auch in deiner Welt Schwierigkeiten“, fuhr er fort, „es braucht nur ein bisschen länger. Hier lernst du sehr schnell, nur Gedanken zu denken, die dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Minnie verwirrt. „Wie können mich schlimme Gedanken in Schwierigkeiten bringen?“ „Nun,“ sagte der Kater und strich sich dabei über die Schnurrhaare, „das ist eigentlich ganz einfach zu verstehen. Wenn du etwas denkst, sendest du Energie in die Welt hinaus, richtig? Und die Energie, die du aussendest, trifft immer auf ähnliche Energien. Wütende Gedanken treffen auf andere wütende Gedanken, und gemeinsam werden sie grösser und stärker, wie Regenwolken, die immer stürmischer werden – und gute Gedanken treffen auf andere gute Gedanken und werden zu ... Katzen.“

 

Das brachte Minnie zum Lachen. „Wirklich, Herr Kater", sagte sie „das klingt ein wenig eingebildet, wenn ich das sagen darf. Aber ich glaube, ich verstehe, was du damit meinst. Ich habe bemerkt, dass niemand mit mir spielen will, wenn ich wütend oder verärgert bin, und wenn ich fröhliche Gedanken denke, scheinen irgendwie alle um mich herum auch fröhlich zu sein. Es scheint also tatsächlich eine Art Energie am Werk zu sein.“

 

„Kluges Mädchen,“ sagte die Katze. „Du lernst schnell, aber ... du meine Güte! Ist es schon so spät? Ich muss mich beeilen!“ Und bevor Minnie merkte, was geschah, war er schon weg. „Warte, Herr Kater ...", rief sie noch, aber sie sah schon seinen schönen langen Schwanz in der Ferne verschwinden.

 

„Lass mich hier nicht allein“, flüsterte sie ein wenig verzweifelt. „Folge einfach dem Weg“, hörte sie die gedämpfte Antwort – oder dachte sie das nur?

 

Minnie sah sich um und seufzte. Der Weg schien sich ewig vor ihr zu erstrecken. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und als sie zurückblickte, konnte sie nicht einmal mehr ihr Haus sehen.

 

„Und das soll ein Abenteuer sein?“, dachte sie ein wenig verärgert, „Ich habe nicht mal eine Ahnung, wie ich nach Hause komme.“ Nach einem Augenblick begann sie zu laufen. Zuerst ein wenig zögerlich, aber bald merkte sie, dass es ihr tatsächlich gefiel. Es gab keine Lehrerin, die sagte, sie solle sich konzentrieren. Keine Hausaufgaben, über die man sich aufregen musste. Keine ungezogenen Jungs, von denen man sich fernhalten sollte. Die Landschaft veränderte sich mit jeder Biegung des Weges, und sie sang fröhlich ihre Lieblingslieder.

 

Als sie alle Lieder, die sie kannte, gesungen hatte, fühlte sie sich müde. Es dämmerte bereits, und noch immer war niemanden da, den sie nach dem Weg hätte fragen können.

 

Sie sah jedoch einen majestätischen alten Baum. Sein Stamm war so riesig, dass wahrscheinlich fünf Leute nötig gewesen wären, um ihn zu umarmen. Um ihn herum war ein wildes Gewirr von dicken, knorrigen Wurzeln die tief in die Erde reichten. Und in seiner prächtigen Krone aus dunklen Blättern sah sie eine Menge der köstlichsten Äpfel, die sie je gesehen hatte.

 

Sie bekam ein wenig Panik, weil sie ganz allein an diesem seltsamen Ort war, und nach und nach sah sie Sterne am dunkler werdenden Himmel. Minnie setzte sich ins Gras unter den Baum. Sie war ratlos. Sie schätzte, dass es schon lange nach dem Abendbrot war, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie nach Hause kommen sollte. Sie war hungrig und müde und spürte, wie ihr eine Träne über die Wange glitt. „Hilfe“, flüsterte sie in die Dunkelheit. Und plötzlich tauchte ein sanftes Licht vor ihr auf, das alles um sie herum zu erhellen schien.

 

 

In der Mitte dieses sanften Lichts stand ihr Schutzengel. Es gab keinen Zweifel. Sie erkannte das blaue Kleid mit den weissen Pünktchen und natürlich auch die Flügel. „Engel“, sagte sie, „ich bin so froh, dich zu sehen, ich war so allein hier.“ „Ich war die ganze Zeit hier, Minnie“, lächelte der Engel. „Warum habe ich dich dann nicht gesehen?“ fragte Minnie. „Ich war verängstigt und müde und hungrig und ganz allein. Wenn du die ganze Zeit hier warst, warum bist du dann nicht zu mir gekommen?“, fragte sie.

 

Der Engel lächelte zärtlich, und Minnies Herz füllte sich mit einer wunderbaren Wärme. „Weil du mich nicht darum gebeten hast, Minnie“, antwortete er sanft. „Du bist ein freier Geist, und du kannst deinen eigenen Weg nach Hause finden, wenn du das willst. Wir, die Schutzengel, sind immer in der Nähe, wir kümmern uns immer um die Menschen, die wir betreuen, und wir haben euch immer, IMMER lieb. Aber wir können nur helfen, wenn ihr uns darum bittet. Das ist die Regel.“

 

„Das verstehe ich nicht“, sagte Minnie und runzelte die Stirn. „Ich war hungrig und verängstigt und allein, und das ist kein schönes Gefühl“, fügte sie ein wenig irritiert hinzu. „Etwas Hilfe wäre schön gewesen.“ Der Engel lächelte wieder.

 

„Aber dann hättest du die Lektion verpasst, die du lernen solltest“, sagte er. „Welche Lektion?“, fragte Minnie, ein wenig verwirrt. „Hilfe kommt zu dir, wenn du um Hilfe bittest“, lautete die Antwort. „Genau das hast du vorhin getan. Du hast um Hilfe gebeten, und damit hast du mir die Erlaubnis gegeben, dir zu helfen. So einfach ist das. Ich habe deine Bitte gehört, und jetzt bin ich hier.“

 

„Danke, Engel. Es ist nur so, dass ich nicht weiss, wie ich nach Hause komme“, sagte Minnie, „und Mama wird bestimmt nicht glücklich darüber sein, dass ich nicht zum Abendessen erschienen bin, und ich habe noch nicht einmal meine Hausaufgaben gemacht, und ich bin wirklich hungrig, und es wird dunkel, und ich habe Angst, und...“.

 

Sie hielt plötzlich inne. „Vielleicht sollte ich diese ganze ängstliche Energie nicht in die Welt hinausschicken“, sagte sie und hielt erschrocken die Hand vor den Mund, „sie könnte sich mit ähnlichen Energien vermischen und zu einem grossen Sturm heranwachsen. Ich glaube nicht, dass ich das will“, beschloss sie und setzte eine tapfere Miene auf.

 

Der Engel zwinkerte ihr zu, und da war wieder diese wunderbare Wärme in ihrem Herzen. „Ich mag dieses warme Gefühl in meinem Herzen“, sagte sie und legte ihre Hand auf ihr Herz. „Wenn ich dieses Gefühl nur jedes Mal abrufen könnte, wenn ich mich aufrege oder ängstlich oder ratlos bin“, seufzte sie. „Dann wäre das Leben nicht so kompliziert.“

 

„Aber das kannst du, Minnie“, antwortete der Engel, “es ist sogar sehr einfach. Stell dir vor, dass du ein kleines Etikett auf dieses wunderbare, warme Gefühl das du jetzt empfindest klebst. Das Etikett und das Gefühl sind dann miteinander verbunden, und jedes Mal, wenn du an das Etikett denkst, kommt das Gefühl automatisch mit ihm hoch.“

 

„Etwa so?“, fragte Minnie, und sie schloss die Augen und malte in Gedanken ein süsses kleines Etikett mit einem Engel darauf – natürlich mit Flügeln – und stellte sich vor, wie sie es auf das wunderbare, warme, rosafarbene Gefühl in ihrem Herzen klebte. „Genau so“, stimmte der Engel zu, „gut gemacht!“

 

„Ich frage mich, ob ich einen dieser Äpfel essen darf“, sagte Minnie und schaute auf. „Sehen sie nicht köstlich aus?“ „Frag doch den Baum, Minnie, der hat bestimmt nichts dagegen.“ Und noch bevor Minnie ausgesprochen war, fiel ihr ein saftiger roter Apfel in den Schoss. „Danke, Baum“, sagte sie, bevor sie einen grossen Bissen nahm.

 

Der Apfel erinnerte sie an etwas, das neulich in der Schule passiert war. Einer der ungezogenen Jungs in ihrer Klasse, Billie, war mit ihrem Apfel weggelaufen, und sie hatte den ganzen Vormittag über Hunger gehabt. Die Erinnerung daran machte sie wütend.

 

„Ich wünschte, ich könnte Billie auf den Mond schicken“, sagte sie laut. Der Engel schmunzelte. „Er wird einen Raumanzug brauchen“, sagte er. Das brachte Minnie zum Lachen, denn ihr kam ein Bild von Billie in einem leuchtend orangefarbenen Raumanzug in den Sinn, der in der Mondlandschaft wegen der geringeren Schwerkraft lächerlich weite Sprünge machte.

 

 

„Nein, im Ernst“, sagte sie, „ich verstehe nicht, warum Billie in der Schule immer so schrecklich sein muss. Es hindert mich daran, mich im Unterricht zu konzentrieren, und manchmal will ich deswegen nicht einmal zur Schule gehen.“ Der Engel sah Minnie nachdenklich an. „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen“, sagte er. „Komm mit mir, Minnie, ich will dir etwas zeigen.“ Der Engel nahm ihre Hand, und im nächsten Augenblick standen sie am Tor eines grossen Pferdehofs.

 

„Das ist doch Billies Zuhause, oder?“, fragte sie. „Das ist es,“ antwortete der Engel, „und da kommt Billie gerade. Keine Sorge, Minnie, er kann uns nicht sehen, denn wir besuchen ihn nur in unseren Gedanken. Lass uns ihm folgen.“

 

Minnie war anfangs ein wenig besorgt, aber bald merkte sie, dass Billie sie wirklich nicht sehen konnte. Er trug Gummistiefel und schob eine Schubkarre mit einer Mistgabel und einer Schaufel darin vor sich her. Billie betrat eine der leeren Pferdeboxen und machte sich sofort an die Arbeit. Das Ausmisten von Pferdeboxen ist harte Arbeit, und bald war Billies Gesicht rot und glänzend vor Schweiss.

 

Nachdem er 4 oder 5 Boxen gesäubert hatte, erschien ein älterer Junge hinter ihm. Er war etwa 14 Jahre alt und es war offensichtlich, dass er Billies älterer Bruder war. „Bist du noch nicht fertig, du Faulpelz?“, schrie der Junge Billie an. „Ich mache die doppelte Arbeit in der Hälfte der Zeit, die du zum Ausmisten der Ställe brauchst. Es ist Zeit, die Pferde reinzubringen, also beeil dich, ja?“

 

Billie seufzte und wischte sich über die Stirn. Er stützte sich einen Moment lang auf seine Schaufel. Es schien ihm, dass er nichts richtig machen konnte, egal wie hart er arbeitete – er war zu langsam oder zu schlampig, oder er benutzte nicht das richtige Werkzeug oder die richtige Einstreu für die Pferde. Und er musste immer noch seine Hausaufgaben erledigen. Minnie konnte sehen, wie müde er war, und sie konnte auch in seinen Augen sehen, wie sehr ihn die harschen Worte seines Bruders verletzt hatten.

 

Minnie sah den Engel an. „Muss Billie immer so hart arbeiten?“, fragte sie. „Jeden Tag“, bestätigte der Engel. „Es ist ein grosser Reitstall, es gibt viel zu tun, und es scheint nie genug Hände zu geben, um alles zu erledigen.“ „Und ist sein Bruder immer so unfreundlich?“ war ihre nächste Frage. „Ich fürchte, er ist ziemlich ungeduldig“, kam die Antwort, „und Billie wird von seinem Bruder leider ziemlich herumgeschubst. Billie liebt die Pferde, also macht er die Arbeit, ohne sich zu beschweren, aber manchmal macht ihm der Mangel an Wertschätzung zu schaffen.“ Minnie nickte nachdenklich und begann zu verstehen, dass es auch für Billie nicht immer einfach war.

 

„Und seine Eltern? Unterstützen sie Billie nicht?“ „Seine Eltern sind so sehr mit dem Hof beschäftigt, dass sie nicht einmal merken, wie sich das alles auf Billie und seinen Bruder auswirkt. Es ist ja nicht so, dass sie ihre Jungs nicht lieben, das tun sie wirklich, aber die Arbeit scheint ihnen immer im Weg zu stehen.“

 

„Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Billie in der Schule so gemein zu mir ist“, grübelte Minnie. „Vielleicht hat er einfach noch nicht gelernt, WIE man nett zu anderen Menschen ist“, sagte der Engel weise. „Vielleicht braucht er nur jemanden, der nett zu ihm ist, um es ihm zu zeigen. Das könnte den ganzen Unterschied ausmachen.“ „Ich verstehe,“ sagte Minnie. „Ja, ich glaube, das tust du“, antwortete der Engel mit einem Lächeln.

 

„Danke, dass du mir das gezeigt hast“, sagte Minnie. „Ich hatte keine Ahnung, dass Billies Leben so schwer ist. Aber jetzt muss ich wirklich nach Hause und meine Hausaufgaben machen“, sagte sie und versuchte zu verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange lief. „Ich hasse Mathe. Diese ganzen Zahlen verwirren mich.“

 

„Vielleicht nimmst du sie zu ernst“, antwortete der Engel. „Sie sind wirklich ein fröhliches, buntes, kleines Volk, weisst du. Und sie lieben es, zu feiern. Soll ich es dir zeigen?“

 

Minnie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Zahlen ein fröhliches, farbenfrohes Volk sein konnten, geschweige denn, was sie denn zu feiern haben könnten. Sie sagte aber, dass sie sie gerne kennenlernen würde. Und bevor sie wusste, was mit ihr geschah, stand sie nochmals vor einem grossen Tor.

 

 

Sie hörte Musik, Gesang und Gelächter von der anderen Seite und schaute den Engel fragend an. „Geh nur weiter,“ sagte er aufmunternd, „du wirst schon erwartet.“ Und während er das sagte, öffnete ein vertrauter, wunderschöner dreifarbiger Kater das Tor für sie. „Herr Kater“, rief sie, „wie schön, dich wiederzusehen.“ Und mit einem Miau, das bedeutete: „Ich finde es auch schön, dich wiederzusehen - die Party ist da drüben, hinter den Bäumen... wenn du mir folgen willst“, streckte er den Schwanz in die Luft und stolzierte davon, auf die Musik zu.

 

 

Minnie traute ihren Augen nicht. So etwas wie das, was sie hinter den Bäumen sah, hatte sie noch nie gesehen. Das erste, was sie sah, war eine riesige, regenbogenfarbene Rutsche.

 

Ihr Mund klappte vor Erstaunen auf, als sie den grossen, offenen Raum und die vielen Tische mit köstlich aussehenden Süssigkeiten erblickte. An einem Baum hing eine grosse Piñata, und Hunderte von chinesischen Laternen liessen den Platz wie einen Ort aus einer anderen Welt erscheinen. Und diese andere Welt war von den erstaunlichsten Wesen bevölkert, die sie je gesehen hatte. Ihre Augen konnten das alles kaum fassen.

 

Eine grosse, blaue 7 spielte Saxophon, während eine orangefarbene 3 mit Pausbäckchen in eine Trompete blies. Die tiefviolette Schlagzeuger 2 hinter ihnen sah wirklich exotisch aus, und eine knallrote Nummer 1 spielte Klavier, als würde ihr Leben davon abhängen.

 

Eine lange Reihe bunter 8er gab unter grossem Beifall der Zuschauer einen irischen Tanz zum Besten, und, direkt vor ihr, jagte eine ganze Bande lästiger kleiner 1er einer seltsam aussehenden 42 hinterher.

 

Die ganze Szene war so lebendig und bunt, dass Minnie laut lachen musste. „Oh meine Güte“, sagte sie, „ich hätte nie gedacht, dass Zahlen so viel Spass machen könnten.“ Und bald war sie voll in der Party verwickelt. Sie sauste immer wieder die Regenbogenrutsche hinunter und tanzte, bis ihr die Füsse wehtaten.

 

Die Zahlen waren tatsächlich ein glückliches, fröhliches und gesprächiges kleines Volk. Eine alte weise 5 erzählte ihr viele Geschichten darüber, wie sie multiplizieren und dividieren konnten. Sie staunte über die komplizierten Jongliertricks, die ihr die Zahlen vorführten, und lachte laut über die dickbäuchige 6, die mit einem Handstand vorgab, eine 9 zu sein, die Täuschung aber nicht lange aufrechterhalten konnte.

 

 

Sie amüsierte sich köstlich, und als eine winzig kleine grüne 0 ihr auf den Schoss kletterte, am Daumen lutschte und prompt einschlief, fühlte sie sich rundum glücklich. Sie konnte sich nicht an eine Zeit erinnern, in der sie so viel getanzt, gelacht und gelernt hatte.

 

„Kater“, sagte sie, als sie einen flüchtigen Blick auf zwei spitze, schwarze Katzenohren erhaschte, „ich bin jetzt bereit, nach Hause zu gehen. Ich freue mich sehr darauf, meine Hausaufgaben zu machen.“ Der Kater drehte sich um und lächelte. „Toll“, sagte er, "ich bin gleich bei dir, aber ich muss zuerst mit Herrn Sieben da drüben über mein nächstes Leben sprechen.“

 

„Schon gut, Herr Kater, ich finde schon allein nach Hause, kein Problem", antwortete sie, während sie die kleine schlafende 0 sanft ihrer türkisfarbenen Mutter zurückgab und zum Tor ging.

 

Am Tor war alles still, und um sie herum war alles dunkel. „Oh je“, dachte sie, „Was nun? Wie soll ich jetzt herausfinden, wie ich nach Hause komme?“ Sie erinnerte sich an das kleine Engelsschild in ihrem Herzen, und sofort erschien ihr Engel.

 

„Engel,“ sagte sie, „was hast du vorhin gemeint, als du sagtest, ich könne den Weg nach Hause selbst finden, wenn ich es wollte? Irgendwie glaube ich nicht, dass ich das schaffen kann. Ich bin einfach zu klein dazu.“

 

Der Engel schaute sie mit seinen sanften Augen an. „Klein?“, sagte er, „du denkst, du bist klein? Dein Körper mag klein sein, liebe Minnie, und, ja, du hast noch viel zu lernen, aber deine Seele ist keineswegs klein. Sie ist sogar ziemlich grossartig. Möchtest du deine Seele kennenlernen, und sehen, wie wir dich alle hier oben sehen?“ „Ja, das würde ich sehr gerne“, kam die geflüsterte Antwort.

 

 

Was dann geschah, würde Minnie nie vergessen. Zuerst wurde der Himmel immer heller, und dann erschien ein sanftes, goldenes Licht vor ihr. Es wurde langsam grosser und strahlender, und Minnie konnte ihren Blick einfach nicht davon abwenden. Und immer noch wurde das goldene Licht heller und strahlender, während sie es beobachtete.

 

Es war aber das Gefühl, das es in ihr auslöste, das sie wirklich nach Luft schnappen liess. Ihr Herz füllte sich mit so viel Liebe, Wärme und Frieden, dass sie fast vergass zu atmen. Sie warf einen Blick durch ihre fast geschlossenen Augenlider, denn das Licht war nun so hell, dass sie kaum hineinschauen konnte, und sie glaubte, die Umrisse eines Gesichts zu sehen – oder bildete sie es sich nur ein?

 

Als sie aber etwas genauer hinsah, erkannte sie, dass es ihr Gesicht war. Sie konnte ihr Gesicht in diesem wunderschönen goldenen Licht erkennen. Sie blinzelte, dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. „Ich bin immer in deinem Herzen, Minnie. Und du kannst mir immer begegnen, genau hier in deinem Herzen, wann immer du willst.“

 

Langsam begann das Licht zu schwinden. „Geh noch nicht“, flüsterte Minnie „ich möchte, dass dieses goldene Gefühl noch ein wenig länger anhält.“ „Wenn in deinem Herzen alles still und ruhig ist, wirst du mich dort finden, versprochen“, sagte die beruhigende Stimme in ihrem Kopf. Und obwohl das Licht nun verschwunden war, blieb ein sanfter, goldener Schein zurück.

 

„So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus den Augen. „Ist dieses goldene Licht wirklich ein Teil von mir?“ „Ja, das ist es“, antwortete ihr Engel. „Und hat jeder Mensch so ein goldenes Licht?“, wollte sie wissen. „Ja, jeder“, kam die Antwort, „aber manche Menschen haben diese goldene Präsenz in sich vergessen“, erklärte der Engel.

 

„Wie ist das möglich?“ fragte Minnie. Der Engel seufzte. „Manchmal vergessen die Menschen, wer sie wirklich sind“, erklärte er. „Alle neugeborenen Babys werden mit diesem goldenen Licht in ihrem Herzen geboren. Aber wenn sie heranwachsen, machen sie viele Erfahrungen. Einige Gute, aber auch viele weniger gute Erfahrungen. Jedes Mal, wenn sie verletzt oder enttäuscht werden oder jemand sie im Stich lässt, legen sie eine Schicht um ihr Herz, um es zu schützen. Mit der Zeit sind es so viele Schichten, dass sie zu einer Mauer geworden sind, und der Schutz ist so stark geworden, dass ihr wahres Selbst völlig hinter dieser Mauer verschwindet. Das ist der Moment, in dem die Menschen vergessen, wer sie wirklich sind. Manchmal finden sie nicht einmal mehr zu ihrem wahren Selbst zurück“, sagte er. „Und das ist sehr traurig.“

 

„Ja“, sagte Minnie und erinnerte sich an das wunderbare Gefühl von Frieden und Liebe in ihrem Herzen, das sie empfunden hatte, als sie ihrem wahren Selbst begegnet war. „Gibt es denn nichts, was ihnen helfen kann?“, fragte sie. „Oh doch, das gibt es“, sagte der Engel. „Ein wenig Licht kann sehr viel bewirken. Dein wahres Selbst ist immer da, und es hört nie auf, dich immer wieder anzustupsen, ganz gleich wie hoch und stark die Mauern geworden sind. Wenn du innerlich ganz still bist, kannst du deinen Weg durch die Schichten finden und dein wahres Selbst wieder umarmen.“

 

 

„Ich verstehe,“ sagte Minnie und gähnte. Es war eine lange Reise gewesen, und sie fühlte sich müde. „Zeit, nach Hause zu gehen“, sagte ihr Engel. „Und wundere dich nicht, wenn Dinge geschehen.“ „Was für Dinge?", fragte Minnie. „Du wirst schon sehen“, war die Antwort ihres Engels. „Sieh einfach zu, dass du ...“. Aber seine Stimme verstummte in der Ferne. „Ich kann dich nicht hören...“ sagte Minnie. „Was soll ich denn tun?“ 

 

Ich sagte: „Sieh zu, dass du deine Hausaufgaben machst, Minnie“, hörte sie die Stimme ihrer Mama sagen. Minnie öffnete die Augen. Sie schaute sich ein wenig verdutzt um und sah ihre Schulbücher aufgeschlagen vor sich liegen.

 

„Und, ach ja, da ist jemand an der Tür für dich“, fuhr ihre Mama fort. Minnie stand auf und ging zur Tür. Billie stand vor ihr, erstaunlich schüchtern für jemanden, der sonst so viel zu sagen hatte.

 

„Hallo“, sagte sie und lächelte. „Ähm, ich...“, sagte er schüchtern. „Ja?" sagte Minnie und lächelte wieder. „Nette Katze“, sagte er und deutete auf den dreifarbigen Kater, der auf dem Mäuerchen vor dem Garten sass, als gehöre es ihm. „Ja“, sagte sie, „er ist nett, aber ein bisschen unzuverlässig, wenn du mich fragst.“ „Miau“, sagte der Kater ein wenig beleidigt und zwinkerte.

 

Billie entspannte sich ein wenig. „Ich bin gekommen, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich in der Schule nicht sehr nett zu dir war“, sagte er. „Oh, das ist schon in Ordnung“, sagte Minnie. „Ich hatte es eh schon fast vergessen.“ „Die Dinge sind nicht immer einfach, oder?“, fügte sie hinzu. Er schaute sie ein wenig überrascht an. „Nein, das sind sie nicht“, seufzte er.

 

„Möchtest du ein Glas Limonade?“, fragte sie. Seine Augen leuchteten auf, aber er sagte: „Nein, danke. Ich muss nach Hause und meine Hausaufgaben machen. Ich hasse Mathe. Diese ganzen Zahlen verwirren mich.“

 

„Vielleicht nimmst du sie zu ernst“, antwortete sie. „Ich stelle sie mir als fröhliche, bunte, kleine Wesen vor, die gerne feiern, und dann fallen mir die richtigen Antworten fast von selbst ein ... soll ich es dir zeigen?“

 

 

„Ja, gerne“, sagte er. Und als er ihr ins Wohnzimmer folgte, schloss sie kurz die Augen, konzentrierte sich auf ihr kleines Engelsetikett und dachte: „Lieber Engel, ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das Billie erklären soll. Kannst du mir bitte helfen?“ Sie spürte ein vertrautes warmes Gefühl in ihrem Herzen. Alles war gut. 

 

 

 

 

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